Grenzen des Individualismus

Vom 11. bis 22. Februar fanden in Berlin die 48. Internationalen Filmfestspiele statt. Welches waren die Höhepunkte und kristallisierten sich aus dem geballten Filmangebot übergreifende Themen heraus? Ein Rückblick.

Weil auch die 48. Berlinale (fast) ohne Stars auskommen musste, sah sich Festivalleiter Moritz de Hadeln veranlasst, diesbezüglich Kritik mit der Bemerkung zu kontern, in Berlin seien die Filme die Stars, auf die anderen könne man gut und gerne verzichten. Mit dieser trotzigen Absichtserklärung im Nachhinein setzte de Hadeln die Berlinale allerdings noch stärker unter Druck. Denn wer Filme zu Stars machen will, der benötigt das entsprechende Rohmaterial, sprich tolle Filme. Tun wir also Moritz de Hadeln den Gefallen und konzentrieren wir uns auf die filmischen Höhepunkte.

Was den Wettbewerb anging, so weckte dieser schon in der Papierform hohe Erwartungen. Regisseure wie Alain Resnais, Jim Sheridan, Michael Winterbottom, Neil Jordan, Joel Coen, George Sluizer, Barry Levinson, Gus van Sant und Quentin Tarantino versprachen gehobenes Unterhaltungskino mit persönlicher und innovativer Handschrift. So richtig enttäuscht hat denn auch fast keiner von ihnen – vollständig überzeugt aber ebensowenige. Herausgeragt hat eigentlich nur Alain Resnais und seine wunderbare musikalische Komödie „On connait la chanson“. Mit welcher Eleganz er ein Nichts an Geschichte erzählt, eine Lehrstunde in Filmkunst und Chansongeschichte erteilt und damit keine Sekunde langweilt, das ist ein Kinokunstvergnügen der ebenso subtilen wie erfrischenden Art. Die übrigen arrivierten Regisseure haben solides Handwerk abgeliefert, auffallend war allerdings, dass es keinem gelang, seinem Werk wirklich neue Facetten hinzuzufügen. Sheridan lieferte mit „The Boxer“ ein weiteres packend inszeniertes und grossartig gespieltes IRA-Drama. Tarantinos mit Spannung erwarteter „Jackie Brown“ erwies sich als jugendfreier Aufguss von „Pulp Fiction“. Und auch die Coen-Brüder reichten mit „The Big Lebowski“ ihre hinlänglich bekannte – zugegebenermassen überaus vergnügliche – Mischung aus schrägen Typen, optischem Feuerwerk und keinem Inhalt. Schon diese drei Filme machen deutlich, woran es den Filmen der rennomierten Regisseure fehlt. Alle sind sie gut gemacht, unterhalten gut bis sehr gut und halten bisweilen sogar eine Prise Nachdenklichkeit bereit, aber alle sorgen auch für mehr oder weniger deutliche Deja-vu Erlebnisse. Wirkliche neue, aufregende Facetten konnte keiner von ihnen seinem Werk hinzufügen. Spätestens hier würde sich Moritz de Hadeln wahrscheinlich wieder zu Wort melden und einmal mehr betonen, Berlin sei auch kein Festival der Regiestars sondern immer noch und immer wieder ganz allein der Filme. Was also gab es weiter zu entdecken?

Aus dem Wettbewerb ragte zu Recht der Gewinner des Goldenen Bären und der Preisträger des Preises der Kirchen „Central do Brasil“ hervor. Dora, eine ehemalige Lehrerin verdient ihren Lebensunterhalt am Bahnhof von Rio de Janeiro. Sie schreibt Briefe für Analphabeten ohne allerdings ernsthaft daran zu denken, diese auch abzuschicken. Da wird sie unversehens und durchaus widerwillig zur Beschützerin des neunjährigen Josué, der bei einem Verkehrsunfall seine Mutter verloren hat. Dora, im täglichen Überlebenskampf zur Zynikerin geworden, wird in eine Mutterrolle gedrängt, die sie nun gar nicht übernehmen mag. Immer wieder versucht sie deshalb, Josué loszuwerden – und begleitet ihn schliesslich doch auf seiner langen Reise ins Landesinnere Brasiliens. „Central do Brasil“ von Walter Salles ist ein schlicht aber überzeugend inszeniertes Road-Movie. Eine herbe Liebesgeschichte zwischen einer alternden Frau und einem Kind. Ein Film auch, in dem Verantwortungsbewusstsein zur Erfüllung wird und schliesslich ein neues Selbst-bewusstsein ermöglicht. Vom ersten bis zum letzten Bild stimmig inszeniert, mit grossartigen Schauspielern besetzt, gelingt Salles sehenswerte und berührende Kino-Poesie. Weil „Central do Brasil“ zudem geschickt Rührseligkeit und falsches Pathos vermeidet, wird er gar zur liebevollen Hommage an den Neorealismus. Dass ausgerechnet dieser Film die einzige Standing-Ovation des Wettbewerbs erhielt, mag zunächst erstaunen. Bei näherem Hinsehen wird aber deutlich, dass hier ein, wenn auch noch bescheidener, Trend sichtbar wird: Egozentrik, Zynismus und Gelacktheit sind „out“, soziale Bindungen, Mitgefühl und Menschlichkeit sind wieder „in“. Im zeitgenössischen Kino wird die Endzeit des Individualismus eingeläutet.

In diese Entwicklung passt auch „Left Luggage“, die Verfilmung eines Buches der niederländischen Autorin Carl Friedman. Auch Jéroen Krabbé erzählt in seinem Erstling eine Liebesgeschichte zwischen den Generationen. Zwischen der aus liberal-jüdischem Hause stammenden Studentin Chaja und dem fünfjährigen Simcha, für dessen chassidische Familie Chaja als Hausmädchen arbeitet. Dadurch lernt sie die fremde Welt der orthodoxen Juden kennen, wird gleichzeitig aber auch Zeugin der fortwährenden, zeitweise grotesk anmutenden Vergangenheitsbewältigung ihrer eigenen Eltern. Als „säkularisierte“ Jüdin lernt sie die Geschichte ihrer Vorfahren, ihre eigenen Wurzeln kennen. Krabbés Versuch, sich dem Thema „Vergangenheitsbewältigung“ anekdotisch und ohne psychologische Erklärungsversuche zu nähern, wurde von vielen Seiten kritisiert, entspricht aber im Tonfall ganz genau der Vorlage Friedmanns und ist inszenatorisch konsequent durchgeführt. Ich jedenfalls kann dieser stilisierten und pointierten Entwicklungsgeschichte viel mehr abgewinnen, als „Good Will Hunting“, wo pseudopsychologische Plattitüden, durch den extensiven Gebrauch von F-Wörtern angereichert, das falsche Pathos eines antiquierten Soziomärchens verbreiten.

Wie eine Sozialkomödie aussehen könnte, zeigt einmal mehr ein englischer Beitrag. „Girls, Night“ ist ein weiteres Beispiel für die einzigartige Gabe der Briten, aus ernsten Themen tragikomische Filme zu machen und sich nicht nur als Traumfabrik sondern auch als präzise Beobachter des sozialen Alltags zu erweisen. In „Girls, Night“ gehen Glück und Unglück fast nahtlos ineinander über: Da scheisst ein Taube der frisch zurecht gemachten Dawn auf den Kopf. Das aber bringe Glück, meinen die Kolleginnen aus der Fabrik. Und tatsächlich, beim wöchentlichen Bingo-Abend zieht Dawn mit 100´000 Pfund den ganz grossen Gewinn. Fast gleichzeitig erfährt Dawn jedoch, dass sie Krebs hat – unheilbaren. Niemandem erzählt sie davon, will so weitermachen wie bis anhin, teilt auch den aussergewöhnlichen Bingo-Gewinn wie immer mit ihrer Schwägerin Jackie. Eben diese Jackie beginnt jedoch zu ahnen, wie es um Dawn wirklich steht. Und abermals geht das Leben andere unübliche Wege: Anstatt in Wehklagen auszubrechen, erfüllt Jackie ihrer besten Freundin Dawn einen Lebenstraum, eine Reise in die Spielermetropole Las Vegas. Regisseur Nick Hurran und seinen beiden famosen Hauptdarstellerinnen Brenda Blethyn und Julie Walters gelingt es, Tragik und Komik zu einem überzeugenden, warmherzigen Film zusammenzufügen und fast nebenbei das Tabu „Tod“ zu brechen. Und das nicht nur Vertreterinnen der Modebranche zu Identifikationsfiguren taugen, bestätigt sich ebenfalls aufs Wohltuendste. Umso bedauerlicher ist es deshalb, dass „Girls, Night“ in den letzten zehn Minuten die Wendung ins konventionell Melodramatische nimmt. Damit wurden wohl auch die Chancen auf den Goldenen Bären verspielt – dass der Film schliesslich ganz ohne Auszeichnung dastand, hat er jedoch nicht verdient.

Neben dem Wettbewerb hat sich in den letzten Jahre das „Panorama“ zu einer interessanten und vielseitigen Plattform entwickelt. Wie im Wettbewerb wurde auch hier immer wieder eine Gesellschaft der Vereinzeilung porträtiert, wurden die Grenzen des Individualismus und die Notwendigkeit verbindlicher Beziehungen sichtbar gemacht. Den kompromisslosesten Beitrag zu diesem Thema lieferte zweifellos Amos Kollek mit „Sue“. Attraktiv, intelligent, im besten Alter, eine kleine Wohnung in Manhattan – für Sue scheint es in New York gut zu laufen. Aber Sue leidet unter den unverbindlichen Bekanntschaften, unter der städtischen Anonymität, wird zunehmend depressiv, verliert Arbeit und schliesslich auch Wohnung. Einmal in Not geraten, findet Sue kaum Hilfe und wenn, dann ist sie unfähig diese anzunehmen. Was vordergründig als das Porträt einer depressiven jungen Frau gesehen werden kann, ist in Wirklichkeit vielmehr die Schilderung einer tiefergehenden Krise, für die Depressionen lediglich Symptom sind. Anhand eines Einzelfalles zeichnet Kollek das bedrückende Bild einer desozialisierten Gesellschaft. Es ist deshalb nur konsequent, dass Kollek seine Anklage nicht mit einem aufgesetzten Happy-End abschwächt. Während „Central do Brasil“ bereits Wege aus der Isolation und neuentdeckte Solidarität aufzeigt, zwingt „Sue“ uns genau hinzuschauen – auf unser Zeitalter der Einsamkeit. So gesehen ist „Sue“ gewissermassen als Negativfolie, die notwendige Ergänzung zu einem Film wie „Central do Brasil“.

Ein weiterer Höhepunkte des „Panoramas“ war „Le Gone du Chaâba“, der erstaunlich sicher inszenierte Erstling von Christoph Ruggia. Frankreich in den 60er Jahren: Omar ist das Kind algerischer Einwanderer, die in einem Elendsviertel von Lyon leben. Omars Vater hat nur einen Wunsch: Sein Sohn soll es einmal besser haben als er. Und tatsächlich, Omar ist ein ausgezeichneter Schüler und entdeckt die weite und befreiende Welt der Literatur. Damit jedoch entfremdet er sich zunehmend von den anderen Kindern der Siedlung, von seinen Wurzeln und schliesslich auch vom Vater. Die Geschichte klingt nicht neu, in „Le Gone du Chaâba“ steckt zweifellos etwas „L,albero degli zoccoli“ und etwas „Padre, padrone“. Aber Ruggia gelingt bei aller Anlehnung an übermächtige Vorbilder ein stimmiger und berührender Film.Und er kann zudem für sich beanspruchen, eine weithin verdrängte Geschichte zu erzählen, jene der algerischen Einwanderer in Frankreich nämlich.

Ein überaus sensibles Werk und für mich ein persönlicher Höhepunkt des Festivals ist der Hongkong-Regisseurin Ann Hui zu verdanken. Auch mit ihrer Langzeit-Liebesgeschichte ohne Happy-End leistet sie zwar keinen originären Kinobeitrag. Mit welcher Sensibilität sie jedoch ihre Geschichte entwickelt und welchen Respekt sie ihren Figuren entgegen bringt, das hat dann doch wieder etwas ganz Aussergewöhnliches an sich. Damit gehört Ann Hui ebenfalls zu jenen Autorinnen, die auf die Leinwand wieder mehr Wahrhaftigkeit und Lebensnähe bringen. Ohne Zeigefinger nämlich und ohne inszenatorische Brechstange gelingt es ihr, auf eindrückliche Weise der Frage nachzugehen, ob gelungenes Leben nur jenes ist, das die Erfüllung des höchsten Glücks kennt. „Ban sheng yuan“, das ist so etwas wie eine filmische Anleitung zum Unglücklichsein.

Was das „Internationale Forum des Jungen Films“ betraf, so trug es diesen Titel nur zum Teil mit recht. Filmemacher wie Bertrand Tavernier oder Richard Dindo gehören jedenfalls schon lange nicht mehr zu den Nachwuchshoffnungen. Aber auch was die Themen betrifft, scheint sich manches allzu sehr verfestigt zu haben. Vergangenheitsbewältigung beispielsweise ist noch immer eines der Hauptthemen, und wäre es zu recht, wenn formal und inhaltlich neue Perspektiven eröffnet würden, genau da aber hapert es. Interessant sind sie sicher, Filme wie „Shivrei Tmunot Yerushalaïm“, eine sechstündige Dokumentation über Jerusalem, oder „A Letter Without Words“, die Geschichte einer jüdischen Bankiersfamilie im Berlin der zwanziger und dreissiger Jahre. Aber der beliebte Ansatz, Weltgeschichte aus der ganz persönlichen Perspektive heraus zu erzählen, kommt schnell an seine Grenzen, wenn das Allgemeingültige allzu sehr hinter dem Persönlichen zurücktritt. In dieser Beziehung sicher eine Ausnahme ist „Grüningers Fall“ von Richard Dindo. Zumal er einer der wenigen Beiträge mit einem formal eigenständigen und ehrgeizigen Konzept war – wenn es auch nicht von allen Zuschauerinnen und Zuschauer gleichermassen geschätzt wurde. Aber ausgerechnet „Grüningers Fall“ dessen zeitlose und allgemeingültige Aussage für mich offensichtlich ist, kam beim Berliner Publikum in Unkenntnis der Hintergründe in den falschen Verdacht, als Porträt eines „guten“ Schweizers für die Schweiz Imagepflege betreiben zu wollen. Von der kirchlichen Jury ausgezeichnet wurde schliesslich „Wang hsiang“ von Hsu Hsiao-Ming, ein eindrückliches Porträt thailändischer und philippinischer Einwanderer in Taiwan. Ein Film, dem es gelingt, anhand von Einzelschicksalen Verständnis für die Hintergründe und Probleme eines globalen Themas, der ökonomischen Migration, zu wecken.

Zum Schluss noch einmal zurück zu Moritz de Hadeln und seiner Liebe zum reinen Kino. Die Berlinale 1998 bot tatsächlich reichlich Gelegenheit, gute und sehr gute Filme kennenzulernen. Allerdings, auf den Star der Filme, einen der alle anderen überstrahlt, auf den man stundenlang im Regen warten würde, bei dessen Anblick der Atem stockt und der das Gefühl verleiht, eben das Kino neu entdeckt zu haben – auch auf diesen Star hat man an der Berlinale vergeblich gewartet.

Thomas Binotto

48. Internationale Filmfestspiele Berlin 1998
Preise der Ökumenischen Jury

Seit 1992 sind die internationalen Filmorganisationen der evangelischen und der katholischen Kirchen – INTERFILM und OCIC – durch eine aus zehn Mitgliedern bestehende gemeinsame ökumenische Jury vertreten. Die Jury vergibt ihren Hauptpreis für einen Film aus dem offiziellen Wettbewerb, sowie je einen Preis in Höhe von 5.000 DM für einen Film aus der Sektion Panorama und aus dem Programm des Internationalen Forums. Die Jury verleiht ihre Preise den Fimschaffenden, denen es mit wirklicher künstlerischer Begabung am besten gelingt, ein menschliches Verhalten oder Zeugnis zum Ausdruck zu bringen, das mit dem Evangelium in Einklang steht, oder die Zuschauerin/den Zuschauer für spirituelle, menschliche oder soziale Werte zu sensiblisieren.
Mitglieder der Jury 1998 waren: Miriam Hollstein (Deutschland), Kjetil Hafstad (Norwegen), Andrew Johnston (Kanada), Angelika Obert (Deutschland), Daniela Roventa-Frumusani (Rumänien) Thomas Binotto (Schweiz), Jean-Paul Guillet (Italien), Milan Simacek (Tschechische Republik), Lothar Strüber (Deutschland), Etienne Wehrlin (Frankreich).

Wettbewerb:

CENTRAL DO BRASIL
Central Station
von Walter Salles
In der zunächst nur widerwillig übernommenen Verantwortung für einen neunjährigen Jungen findet die alternde Dora schliesslich neuen Lebensmut. Der Regisseur erzählt ebenso geradlinig wie sensibel eine Geschichte über die Suche zweier Menschen nach Identität.

Spezialpreis für einen Kurzfilm im Wettbewerb:

CINEMA ALCAZAR
von Florence Jaugey
Ein verlassenes Kino, die Behausung einer verlassenen Grossmutter, wird zum Symbol für die Verlassenheit des nicaraguanischen Volkes. Der Film, der mit geringsten Mitteln realisiert wurde, zeugt davon, wie das Leben selbst unter schwierigsten Bedingungen weitergeht.

Panorama:

SUE
von Amos Kollek
Augezeichnet für sein eindruckvolles Porträt einer arbeitslosen New Yorkerin, die sich zunehmend von ihrer Umwelt entfremdet und schliesslich an ihrer Einsamkeit zugrunde geht. Der Film schildert ohne melodramatische Effekthascherei die verzweifelte Suche nach Liebe und Nähe in einer Gesellschaft der Vereinzelung.

Forum:

WANG HSIANG
Heimwehkranke Augen
von Hsu Hsiao-Ming
HEIMWEHKRANKE AUGEN gibt ökonomischer Migration Gesichter. Wir begegnen Menschen aus Thailand und von den Philippinen, die in Taiwan hart arbeiten, um das Überleben ihrer Familien zu sichern. Wir werden Zeugen ihrer Einsamkeit und ihrer Sehnsucht nach einem Zuhause. Es wird aber auch deutlich, aus welchen Quellen ihr Lebensmut kommt