W. – Was von der Lüge bleibt

Als in der Schweiz 1995 das Buch «Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948» erschien, sorgte es über die Landesgrenzen hinaus für Aufsehen. Der Autor, ein gewisser Binjamin Wilkomirski, erzählte von seiner Zeit in zwei Konzentrationslagern in Polen, bevor er über Krakau in die Schweiz kam. Das Buch wurde in zwölf Sprachen übersetzt, Wilkomirski bekam zahlreiche Preise und war ein gefragter Zeitzeuge. Vier Jahre später stellte sich heraus: Seine Erlebnisse sind Fiktion. Wilkomirski, der gebürtig Bruno Grosjean hiess, wuchs als uneheliches Kind in einem Waisenhaus in Adelboden auf. Später adoptierte ihn das wohlhabende Paar Dössekker aus Zürich.

Nach 20 Jahren versucht der Filmemacher Rolando Colla mithilfe von Archivmaterial und Zeitzeugen den Beweggründen Dössekkers auf die Spur zu kommen. Dössekker selbst kommt auch zu Wort. Das ist bemerkenswert, weil er sich völlig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat. Collas Dokumentation ist, mitsamt den stimmigen Illustrationen des Comiczeichners Thomas Ott, genauso spannend wie erschütternd. Sie nimmt uns mit auf die schmerzliche Reise in das Trauma eines schwierigen und einsamen Menschen, der zeitlebens nach Antworten suchte. Dössekker verschob seine Erinnerungen, von deren Wahrhaftigkeit er vermutlich selbst überzeugt war. Wo fängt die Lüge an und wo hört sie auf? Letztlich ist unser menschlicher Geist so komplex, dass manchmal mehrere Wahrheiten parallel zueinander existieren können.

Sarah Stutte, Filmjournalistin

«W. – Was von der Lüge bleibt», Schweiz 2020, Regie: Rolando Colla, Verleih: Filmcoopi, http://www.filmcoopi.ch

Kinostart: 12. November 2020