Saint Omer

Rama (die Genfer Schauspielerin Kayije Kagame) lebt als erfolgreiche Buchautorin in Paris. Sie reist in die Stadt Saint Omer bei Calais, um über einen Gerichtsprozess zu schreiben, der schon im Vorfeld hohe Wellen geschlagen hat. In Saint Omer wird Laurence Coly (grossartig: Guslagie Malanda) angeklagt, ihre 15 Monate alte Tochter ermordet zu haben. Sie liess das Baby allein an einem Strand zurück, worauf es von der Flut ertränkt wurde.

Wie Rama ist die Angeklagte senegalesischer Herkunft, gebildet und redegewandt und noch eine Gemeinsamkeit verbindet sie: Die Entfremdung zur eigenen Mutter. Beeindruckt von Colys unerschütterlicher Verteidigung, die auf ihren Erfahrungen mit emotionaler Vernachlässigung fusst, beginnt Rama während des Prozesses über ihre eigene Vergangenheit und das Muttersein nachzudenken.

Die preisgekrönte Dokumentarfilmerin Alice Diop liefert mit ihrem ersten Spielfilm ein geheimnisvolles, tragisches und zutiefst verstörendes Gerichtsdrama ab. Dieses beruht auf dem wahren Fall der Senegalesin Fabienne Kabou, deren Prozess Diop 2015 selbst besuchte.

Nicht nur den Medea-Mythos nimmt der Film auf, auch die Herkunft und Stellung der Frau sowie Rassismus sind starke Motive, die immer wieder subtil in die Handlung eingeflochten werden. Die Gelassenheit dieses ruhigen Films, seine emotionale Zurückhaltung und moralische Ernsthaftigkeit – und die angedeutete Bekenntnisdimension, die Diop selbst betrifft – machen «Saint Omer» zu einem aussergewöhnlichen Erlebnis.

Sarah Stutte, Filmjournalistin

«Saint Omer», FR 2022, Regie: Alice Diop, Besetzung: Kayije Kagame, Guslagie Malanda, Aurélia Petit, Verleih: Cineworx, http://www.cineworx.ch

Kinostart: 2. März 2023