Katholische Welt. Der Kuss des Judas

Mit einem Kuss brachte Judas Jesus ans Kreuz. Ein Jünger, der seinen Herrn verrät, der dessen Vertrauen bis zum Äussersten missbraucht. Was kann das für ein Mensch gewesen sein? Für die Autoren des Neuen Testaments ist der Fall recht klar: Judas war ein schlechter Mensch, ein geldgieriger Dieb, ein vom Teufel Besessener, sonst hätte er nie so gehandelt. Und schon früh entstehen in der Kirche schwarze Legenden um diesen Judas – kein Wunder also, dass er sich erhängt haben soll, dieser entstellte, rothaarige Mann, das personifizierte Böse. Für die Evangelien ist nicht relevant, ob sein Verrat gar gottgewollt war, um den Tod Jesu am Kreuz überhaupt zu ermöglichen: War er gewissermassen der Auserwählte Gottes? In dem erst seit 2006 bekannten Judas-Evangelium wird Judas so dargestellt. Die Entdeckung dieses Textes aus dem 2. Jahrhundert galt vielen als grosse Sensation. Doch beim kritischen Lesen müssen viele der Gedanken relativiert und der Text vor dem Hintergrund seiner Entstehung im gnostischen Umfeld interpretiert werden, meint der Spezialist für frühchristliche Literatur und das Neue Testament, Horacio Lona