Journal de Rivesaltes 1941-1942

Bestürzend immer wieder, wie ein Wort, das Vertrauen weckt, eine Benennung, die Gastlichkeit verspricht, sich in einen Ausdruck von mörderischem Zynismus verkehrt, sobald die Umstände andere sind als die, die man in ihrem Zusammenhang erwartet. „Centre d´hébergement“ lautete die Bezeichnung für das Interniertenlager bei Rivesaltes in den Französischen Pyrenäen während des Zweiten Weltkrieges. Aufgestellt hatten die Franzosen das Lager einst für die Spanier, die dem Regime Francos entfliehen konnten. Auch damals war das Lager kein Ort, wo Hoffnung aufkeimen konnte. Jeder Hoffnung bar waren dann allerdings die Juden, Zigeuner und Fahrenden, die seit 1940, als die Deutschen Frankreich stürmten, hier zusammengepfercht wurden. Von Rivesaltes gingen die Transporte über Drancy, wo sich ein Umladeplatz befand, nach Auschwitz.

Ausgeschickt von der Schweizer Kinderhilfe, die das Rote Kreuz nach Ausbruch des Krieges eingerichtet hatte, tat in den Jahren 1941 und 1942 Friedel Bohny-Reiter als Krankenschwester ihren Dienst. Gebürtige Österreicherin, durch Heirat Baslerin geworden, hatte sie sich freiwillig gemeldet. Worin aber konnte ihre Hilfe bestehen? Brot und Reis konnte sie an die hungernden Kinder verteilen, Kleider aus der Schweiz aushändigen, Lebensmut konnte sie vermitteln. Liebe konnte sie geben, über den Trost hinweg, den sie sich Tag für Tag selber einreden musste. Obwohl sie begriff, dass sich keine Rettung erhoffen liess für den, der sein Schicksal, das er hier erlitt, zu reflektieren begann und nicht einfach ausharrte, führte sie selbst ein Tagebuch, das sie auch mit eigener Hand illustrierte. Was sie mit ihren Notizen wollte, war, ihren späteren Erinnerun-gen eine Stütze zu geben, war die Reflexion auch ihrer Rolle. Denn der Zwiespalt war nicht zu über-winden: War sie, die half, nicht auch eine Komplizin der Deportation, der Vernichtung? Heute 85 Jahre alt, ist Friedel Bohny-Reiter gemeinsam mit Jacqueline Veuve, der Filmerin, den Weg nach Rivesaltes noch einmal zurückgegangen. Sichtlich von Schmerz bewegt, in ihrem Zwiespalt keineswegs beruhigt, in ihrer Trauer nicht gedämpft, zwar dankbar gewiss, dass es ihr immer wieder auch gelungen ist, Kinder zu retten. Denn sie fälschte Urkunden, stellte Taufbescheinigungen aus, schmuggelte Kinder aus dem Lager.

Der Film „Journal de Rivesaltes 1941-1942“ ist über das Textliche des Tagebuches hinaus ein vielschichtiges Dokument der Zeitzeugenschaft. Jacqueline Veuve setzt fotografische Zeugnisse jener Zeit spar-sam, aber signifikant ein, verdeutlicht, indem sie die eigene Kamera über sie hin bewegt, da und dort Ein-zelheiten, dramatisiert die Bilder aber selbst nie, denn ihre Aussagekraft ist auch so erschütternd. Die alten Bilder gehören zu jenem kürzeren Teil des Films, der in Schwarzweiss gehalten ist, und der Friedel Bohny-Reiters Aufenthalt in Rivesaltes akribisch dokumentiert. Eine junge Schauspielerin übernimmt mit Diskretion das Alter ego der jungen Krankenschwester von damals. In Farbe ist der weitere Teil des Films: die Wanderungen durch die Ruinen des Lagers, die Begegnungen mit Überlebenden. Nicht vordergründig als Lobredner für die gute Frau sind diese Zeugen bestellt.

Jacqueline Veuve leistet mit „Journal de Rivesaltes 1941-1942“ in der gegenwärtigen Situation der Debatte über das Verhalten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg (und seither) einen Beitrag von ungewollter Aktualität. Einen Beitrag, der, auch wenn er nun ungewollt diese Aktualität beansprucht, seine geschichtliche Bedeutung auf jeden Fall auch sonst besitzen würde. Ein Film, der – wie mancher andere vor ihm aus den Händen schweizerischer Filmer – alle beschämen muss, vorab die Politiker, die Versäumnisse nicht zugestehen wollen.

Martin Schlappner (gekürzt)

„Journal de Rivesaltes 1941-1942“, Regie: Jacqueline Veuve

Film des Monats Februar 1998