Notturno

«Ich spüre deine Gegenwart, wenn ich diese Wand berühre», klagt eine ältere Frau in schwarz und streicht über rauen Beton. Sie betrauert den gewaltsamen Tod ihres und vieler anderer Söhne im Krieg.

Auf einem Dach turtelt ein verliebtes Pärchen, während im Hintergrund Maschinengewehrsalven zu hören sind.

Ein Junge versucht in der Dämmerung Vögel oder sonstiges Getier zu erlegen, um damit die vaterlose Familie zu ernähren.

Wir befinden uns im Krieg. Nicht unmittelbar an der Front, aber in vom Krieg zerstörten Grenzgebieten in Syrien, Kurdistan, Irak und Libanon. Zwar sind Verwüstung, Trauer und Mangel als Nachwirkungen der Katastrophe überall sicht- und spürbar, nichtsdestotrotz besteht eine gewisse Normalität. Den Menschen hier ist Schreckliches widerfahren, dennoch leben und lieben sie – und sie leisten Widerstand. Auf unterschiedliche Weise. Die Peschmerga-Soldatinnen verteidigen ihre Werte mit Waffen gegen den IS. In einer Psychiatrie werden die Traumata in einem Theaterstück aufgearbeitet und in der Kunsttherapie für jesidische Kinder wird Resilienz mit Papier und Stiften gefördert.

Gianfranco Rosis Dokumentarfilm ist ein Mosaik intimer Alltagsszenen aus kriegsversehrten Gebieten im Nahen Osten. Die wunderschön komponierten Bilder stehen in einem markanten Gegensatz zur humanitären Katastrophe, die gezeigt wird. Diese Dissonanz unterstreicht die Einsicht, dass Menschen fähig sind, auch unter schwierigsten Umständen ihre Würde zu bewahren und die Hoffnung nicht aufzugeben.

Natalie Fritz, Religionswissenschaftlerin und Redaktorin Medientipp

«Notturno», Italien/Frankreich/Deutschland 2020; Regie: Gianfranco Rosi; Verleih: Xenix Filmdistribution GmbH, http://www.xenixfilm.ch, Filmwebseite: http://www.xenixfilm.ch/de/film_info.php?ID=12007

Ab 23. September 2021 im Kino