Love Me Tender

Die 32-jährige Seconda leidet unter Agoraphobie und kann das Haus ihrer Eltern, bei denen sie lebt, nicht verlassen. Doch dann stirbt die Mutter unerwartet, der Vater macht sich aus dem Staub und Seconda ist auf sich allein gestellt. Als das Essen knapp wird und sie ein Schuldeneintreiber bedrängt, wagt sie sich in ihrem blauen Overall letztendlich vor die Tür, um sich den Herausforderungen zu stellen, die dort auf sie warten.

Der zweite Spielfilm der schweizerisch-peruanischen Regisseurin Klaudia Reynicke ist so unberechenbar wie das Leben. Zum einen wegen seiner unkonventionellen Frauenfigur, bravourös gespielt von Barbara Giordano, die selbst die banalste Einstellung zu einem besonderen Seherlebnis macht. Andererseits aufgrund seiner ungewöhnlichen Dramaturgie, die Reales und Surreales geschickt zu balancieren weiss, ohne jemals das Gleichgewicht zu verlieren und sich ihren ganz eigenen Weg durch den Alltag bricht. Das bringt überraschende Momente voller Poesie hervor. Dann, wenn sich Secondas Körper im Rhythmus einer Musik bewegt, die nur sie hören kann und mit der sie sich frei tanzt.

Reynicke zeigt eine komplexe Heldin mit Ecken und Kanten, die ihre Barrieren abbauen muss, um ihren Platz in einer Welt zu finden, ohne sich ihr zu unterwerfen. «Love Me Tender» ist ein Film über den Wahnsinn in uns allen. Mit seiner kraftvollen Ästhetik fordert er uns auf, in uns selbst hineinzublicken, unsere Einzigartigkeit zu erkennen und sie zu akzeptieren.

Sarah Stutte, Filmjournalistin

«Love Me Tender», Schweiz 2019, Regie: Klaudia Reynicke; Besetzung: Barbara Giordano, Antonio Bannò, Gilles Privat; Verleih: First Hand Films, http://www.firsthandfilms.com